Hoher Altersdurchschnitt in der Arbeitsmedizin

Der Bereich der Arbeitsmedizin ist hier grundsätzlich keine Ausnahme. Im Jahr 2023 gab es etwa 8.000 berufstätige Arbeits- und Betriebsmedizinerinnen und -mediziner in Deutschland; bei den aktiven Fachärzten war fast ein Drittel 60 Jahre oder älter. Über die letzten Jahre ist die Zahl der Arbeits- und Betriebsmediziner relativ konstant geblieben. Ein im Vergleich zu anderen medizinischen Arbeitsbereichen höherer Altersdurchschnitt in der Arbeitsmedizin ist grundsätzlich nicht erstaunlich – arbeitsmedizinische Qualifikationen werden oft erst in einem späteren Karriereabschnitt erworben. Wenn jedoch ein derart großer Teil des Fachpersonals kurz vor dem Ruhestand steht, muss man die Attraktivität des Berufsfeldes für jüngere Ärztinnen und Ärzte zumindest hinterfragen.

Der hohe Altersdurchschnitt in der Arbeitsmedizin ist schon seit längerer Zeit ein Thema: Eine Studie zeichnete bereits 2014 ein skeptisches Bild von der Zukunft arbeitsmedizinischer Versorgung. Tatsächlich ist im Jahrzehnt zwischen 2009 und 2019 die Zahl der Facharztanerkennungen als Resultat verstärkter Bemühungen bei der Nachwuchsgewinnung um 70% gestiegen. In den letzten Jahren stagniert die Entwicklung jedoch wieder.

Tendenz: Der Bedarf an arbeitsmedizinischer Expertise steigt

Es ist aber ohnehin nicht die Entwicklung der absoluten Ärzte-Zahlen, die zur Diagnose „Fachkräftemangel“ berechtigt, sondern das Verhältnis dieser Zahlen zum Bedarf. Und dieser steigt in der Tendenz: Personalagenturen konstatieren seit der Pandemie ein gestiegenes Bewusstsein für die Bedeutung von Arbeitsschutzthemen auch bei kleinen und mittleren Unternehmen. Auf der anderen Seite werden seit Abklingen der Pandemie Betriebe auch wieder verstärkt von den Aufsichtsbehörden kontrolliert. Im Ergebnis werden mehr Arbeits- und Betriebsmediziner gesucht.

Verstärkt wird dieser Trend durch den zunehmenden Fachkräftemangel quer durch die Branchen: Es wird immer wichtiger für Unternehmen, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so lange wie möglich im Beruf zu halten. Damit aber fällt der Blick auf die Themen „Arbeitsbedingungen“ und „Gesundheitsvorsorge“ – und damit auf die Spezialisten, die man braucht, um Menschen in einem der Gesundheit und dem Wohlbefinden zuträglichen Arbeitsumfeld möglichst lange fit und motiviert zu halten. In einer alternden Erwerbsgesellschaft steigt der Bedarf an arbeitsmedizinischer Expertise und Dienstleistung. Daraus lässt sich umgekehrt die Schlussfolgerung ziehen und die These aufstellen: Der Fachkräftemangel in der Arbeitsmedizin verstärkt den Fachkräftemangel in anderen Branchen.

Die Größe der durch diese Faktoren entstehenden Fachkräftelücke ist allerdings nicht genau zu bemessen, da nur unvollständige Daten zur arbeitsmedizinischen Versorgungssituation der Betriebe vorliegen. Verschiedene Untersuchungen legen nahe, dass es eine deutliche Unterversorgung vor allem bei mittleren und kleinen Unternehmen gibt.

Den Bedarf an Arbeitsmedizinern senken?

Um eine Fachkräftelücke zu schließen, kann man grundsätzlich auf der Angebotsseite oder bei der Nachfrage ansetzen. Die Nachfrage ergibt sich in hohem Maße aus rechtlichen Vorgaben – die natürlich prinzipiell veränderbar wären. Tatsächlich schlägt der Bund deutscher Arbeitgeber als Vertreter der Unternehmen vor, insbesondere kleine Unternehmen von der Verpflichtung zur Inanspruchnahme arbeitsmedizinischer Fachkräfte zu befreien und stattdessen die Beratungsangebote der Unfallversicherungsträger auszubauen. Auch sollen Betriebe, die ihrer Pflicht zur Stellung eines Betriebsarztes nicht nachkommen können, weil sie keinen finden, von Haftungsansprüchen freigestellt werden. Überspitzt formuliert: Wenn es nicht genug Arbeits- und Betriebsmediziner gibt, soll der Bedarf künstlich gesenkt und an die Realität auf dem Arbeitsmarkt angepasst werden. Das wäre letztlich eine Kapitulation vor dem Problem. Der Gesundheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wäre damit nicht gedient.

Die Attraktivität des Berufsfelds Arbeitsmedizin

Und die andere Stellschraube: Lässt sich das Angebot an Fachkräften erhöhen? Hier stellt sich die Frage nach der Attraktivität des Berufsfelds Arbeitsmedizin. Arbeitsmediziner in Betrieben haben sehr viel mit Unternehmensstrukturen und Produktionsprozessen zu tun; sie sind oft eher Gesundheits- und Arbeitsschutzmanager als praktizierende Ärzte. Das entspricht sicher nicht immer dem Bild, das sich junge Mediziner von ihrem Beruf machen. Auf der anderen Seite kann aber gerade die Vielfalt der Tätigkeiten über den im engeren Sinn medizinischen Bereich hinaus attraktiv sein. Die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin etwa wirbt ausdrücklich mit diesem Argument um Nachwuchs. Die Anbindung an Arbeitsabläufe in anderen Wirtschaftsbranchen führt auch dazu, dass die Berufstätigkeit als Arbeits- oder Betriebsmediziner besser mit dem Familienleben vereinbar ist, als es bei vielen anderen ärztlichen Fachrichtungen der Fall ist – auch dieser Punkt wird bei der Werbung für das Fachgebiet regelmäßig hervorgehoben.

Einige Vorteile des Berufsfelds Arbeitsmedizin auf einen Blick:

  • abwechslungsreiche Aufgaben in den Bereichen Arbeits- und Gesundheitsschutz
  • breites medizinisches Spektrum, da die große Anzahl von Berufskrankheiten fast alle klinischen Fachgebiete berührt
  • starke Gewichtung von Prävention und ganzheitlicher Blick auf den Menschen
  • Zusammenarbeit mit unterschiedlichsten fachfremden Disziplinen
  • sehr gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Ernster ist die Klage in puncto Überlastung und Bürokratie: Rechtliche Vorgaben und Verantwortlichkeiten sind umfangreicher geworden und gehen, wie in anderen Fachrichtungen auch, mit einem zunehmenden Aufwand für administrative und fachfremde Aufgaben einher. Das Ergebnis ist einfache Mathematik: In einer Situation, in der eine stagnierende Zahl von Fachkräften bei steigender Nachfrage immer umfangreichere Aufgaben bewältigen soll, kann die Rechnung nur aufgehen, wenn gleichzeitig die Arbeit effizienter organisiert wird. Andernfalls drohen nicht nur aktuelle Engpässe; vielmehr nimmt die Attraktivität des Fachgebiets weiter Schaden, und die Rekrutierungsbemühungen der letzten fünfzehn Jahre sind Makulatur.

Zu dieser Steigerung der Effizienz haben sich in den letzten Jahren tatsächlich zwei vielversprechende Ansätze gezeigt.

Entlastung durch Arbeitsmedizinische Assistenz

Fachspezifisch ausgebildete Assistenzkräfte können Ärzten viele Aufgaben abnehmen. Das betrifft nicht nur Verwaltungsroutinen, sondern auch Funktionsdiagnostik. Seit einiger Zeit gibt es Weiterbildungen zur „Arbeitsmedizinischen Assistenz“; sie verzeichnen steigende Absolventenzahlen.

Relativ neu im Kanon der medizinischen Berufe ist der PA, der physician assistant, zu Deutsch so viel wie Medizinalassistent oder Arztassistent. Bei der Ausbildung zu einem PA handelt es sich um ein Studium über 3 Jahre, dass mit seinem Abschluss erlaubt, bestimmte ärztliche Tätigkeiten auf Weisung einer Ärztin oder eines Arztes durchzuführen und beispielsweise diagnostische Verfahren anzuwenden, zu interpretieren und zu befunden. Gerade im arbeitsmedizinischen Bereich könnte dies eine weitere Entlastung der knappen ärztlichen Ressource darstellen.

Auch diesen Zusammenhang gilt es zu berücksichtigen: Wer die Arbeitsmedizin für Ärztinnen und Ärzte attraktiv machen will, muss sie auch für Assistenzkräfte attraktiv machen.

Digitalisierung: Datenmanagement und Telemedizin

Digitalisierte Datensätze in der Medizin beschleunigen nicht nur die Arbeitsprozesse; sie können auch Grundlage für effektivere Forschung, Diagnose und Therapie sein. Hier müssen Datenschutzprinzipien berücksichtigt und möglicherweise auch angepasst werden.

Für die Überwindung des Fachkräftemangels noch bedeutender könnte gerade im Bereich der Arbeitsmedizin die Telemedizin werden. Je mehr Unternehmen und Standorte der einzelne Arzt oder die einzelne Ärztin betreuen muss, desto größer wird das Problem der räumlichen Zersplitterung. Das gilt in der Arbeitsmedizin ganz besonders, denn hier haben Mediziner*innen es nicht nur mit Patienten in einer Praxis zu tun; sie sind auch in viele betriebliche Abstimmungsprozesse mit eingebunden. Der systematische Einsatz von Videokommunikation kann viele Wege, viel Zeit und viel Arbeitsenergie einsparen. Hier tut sich ein weites Feld von Anwendungsmöglichkeiten auf: Besprechungen mit individuellen Ansprechpartnern oder Fachgremien in den Unternehmen, Online-Beratungen, virtuelle Betriebsbegehungen und Online-Gefährdungsbeurteilungen, Video-Unterweisungen für Arbeitnehmer, Telekonsile und manches mehr. Besonders interessant ist auch die Möglichkeit, aus der Ferne die Arbeit arbeitsmedizinischer Assistenzkräfte zu koordinieren, die vor Ort in den Unternehmen ihren Arbeitsplatz haben können. Durch die räumliche Aufteilung von Mediziner*innen und Assistenzpersonal könnten die Betreuungsstrukturen ausgeweitet und so die arbeitsmedizinische Abdeckung verbessert werden.

Die Kombination aus neuen Formen der Digitalisierung und der verstärkten Ausbildung arbeitsmedizinischer Assistenzkräfte weist einen begehbaren Weg in eine Zukunft ohne arbeitsmedizinischen Betreuungsmangel. Sie kann Druck aus einem ansonsten überlasteten System herausnehmen und gewissermaßen eine Win-Win-Win-Situation herbeiführen: Mit gesünderen Arbeitnehmern, mit Unternehmen, denen wichtiges Personal lange erhalten bleibt und mit Arbeitsmedizinerinnen und -medizinern, die – wieder – unter attraktiven Bedingungen ihre Aufgaben erfüllen können.


Quellen: