Ist die Zukunft der Medizin digital? Ja, natürlich: Wie in allen anderen Lebensbereichen wird die Erweiterung technischer Möglichkeiten immer auch ihren Niederschlag in den verschiedenen Fachbereichen ärztlicher Tätigkeit finden. Allerdings ist gerade die Medizin sehr stark personenbezogen: Egal ob bei Diagnose, Therapie oder Beratung – der persönliche Kontakt zum Menschen wird unverzichtbar bleiben.
Die persönliche Begegnung und die (nächste) digitale Revolution sind allerdings keine Gegensätze – im Gegenteil: Die stetige Ausweitung der technischen Möglichkeiten führt zu neuen Dimensionen der Begegnung zwischen Mediziner*innen und Patient*innen. Das Stichwort lautet „Telemedizin“ – neue Kommunikationswege können räumliche Entfernungen bedeutungslos machen; sie verheißen nicht weniger, sondern mehr persönlichen Austausch. Es sind vor allem Videoanwendungen via Internet, die großes Potenzial für die ärztliche Berufspraxis haben.
- Videosprechstunden ergänzen das stationäre Sprechstundenangebot, wenn Entfernungen zu groß oder Patient*innen nicht mobil sind.
- Teledelegation: Die Arbeit von Assistenzkräften kann aus der Ferne koordiniert werden. Bei standardisierten Untersuchungen brauchen Ärztinnen und Ärzte damit nicht mehr selbst zugegen zu sein.
- Online-Beratungen und Online-Besprechungen sparen allen Beteiligten viele Wege. Ein wichtiger Sonderfall sind Telekonsile – kollegiale Fachkonsultationen.
- Video-Schulungen und -unterweisungen sind besonders in der Arbeitsmedizin von großer Bedeutung.
- E-Learning kann Aus- und Fortbildungen unkomplizierter machen.
- Für Arbeitsmediziner*innen sind sogar virtuelle Betriebsbegehungen und im Anschluss Online-Gefährdungsbeurteilungen möglich geworden.
- Telemetrie und Telemonitoring: Messgeräte im Besitz von Patient*innen können Werte wie Blutdruck oder Herzfrequenz automatisch online übermitteln.
So wird eine umfassende ärztliche Betreuung aus der Ferne denkbar: Den Anfang macht vielleicht eine Videosprechstunde, nach der eine Assistenzkraft vor Ort in Fernabstimmung mit dem Arzt oder der Ärztin Standarduntersuchungen durchführt. Die Zusammenarbeit mit dem Labor läuft online, wie auch Konsile mit anderen Fachärztinnen und Fachärzten. Speziellere Untersuchungen und Therapien werden weiterhin vor Ort erfolgen; Beratung und weitere therapeutische Betreuung können dann wieder als Videotermine angeboten werden.
Vor- und Nachteile telemedizinischer Verfahren
Die Vorteile dieser Art von Telemedizin sind klar:
- Alle Beteiligten sparen Anfahrts- und teilweise auch Wartezeiten.
- Die Betreuung wird deutlich flexibler: Kurze Videotermine lassen sich leichter in den Tagesablauf integrieren; elektronisch eingereichte Daten können dann bearbeitet werden, wenn es zeitlich passt.
- Patient*innen, die zeitlich oder in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, erhalten besseren Zugang zu medizinischer Betreuung.
- Mediziner*innen können ein viel größeres Einzugsgebiet abdecken.
- Mediziner*innen können prinzipiell mehr Patient*innen und – in der Arbeitsmedizin – Mitarbeitende von Unternehmen betreuen.
Dem steht als offensichtlicher Nachteil gegenüber, dass Ärztinnen und Ärzte auf diesem Wege keine körperlichen Untersuchungen durchführen können und sich die medizinische Informationserhebung auf das Gespräch und im Rahmen von Videotelefonie auf den visuellen Eindruck von der Gesamterscheinung der Patient*innen beschränkt. Auch gibt es Mindestanforderungen an die technische Ausstattung und Kompetenz – nicht nur in der Arztpraxis, sondern auch bei Patient*innen.
Bisherige Erfahrungen zeigen, dass Telemedizin die Versorgung deutlich verbessern kann. Denn sie rückt eine wichtige Informationsquelle für Ärztinnen und Ärzte wieder in den Vordergrund, die in den letzten Jahren aufgrund des Zeitdrucks in der medizinischen Akutversorgung immer mehr vernachlässigt wurde: die Anamnese. Dies meint die ausführliche Erhebung von Krankenvorgeschichte und Beschwerden, die oft entscheidende Hinweise auf bestimmte Krankheitsbilder liefert. Ein solches Gespräch benötigt Zeit, gute Anamnesetechniken und ein geschütztes Gesprächsumfeld. Dies kann die Telemedizin insbesondere in der Arbeitsmedizin bieten.
Die technischen und organisatorischen Herausforderungen sind aber nicht zu unterschätzen: Nur wenn die Technik verlässlich funktioniert und für alle Seiten leicht zu handhaben ist, können die Vorteile der Telemedizin tatsächlich genutzt werden.
Entwicklung der Telemedizin
Telemedizin ist keine Erfindung des digitalen Zeitalters. Telefonische Beratungen und Sprechstunden gibt es schon lange; sie führten aber eher ein Nischendasein. Mit der Verbreitung des Internets wurde Telemetrie möglich; erst der Ausbau von Netzen und Anschlüssen mit hohen Bandbreiten schuf nach und nach die Voraussetzungen für Video-Anwendungen.
Seit 2017 sind Videosprechstunden im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung abrechnungsfähig. 2018 änderte der Deutsche Ärztetag die Musterberufsordnung und machte damit den Weg frei für eine ausschließliche Beratung und Behandlung über digitale Medien – „im Einzelfall“.
Die Corona-Pandemie brachte der Telemedizin einen großen Schub. Nach Zahlen der Techniker Krankenkasse stieg die Zahl der Online-Behandlungen von 358 (!) im Jahr 2019 auf 956.000 im Jahr 2021. Noch 2020 erarbeitete die Kassenärztliche Bundesvereinigung Hinweise zur Videosprechstunde. Um telemedizinische Leistungen mit den Krankenkassen abrechnen zu können, müssen Ärztinnen und Ärzte demnach zur Sicherstellung eines reibungslosen und sicheren technischen Ablaufs einen von der KBV zertifizierten Videodienstanbieter beauftragen. Die Zahl solcher Anbieter stieg zwischen März 2020 und März 2024 von 21 auf 95.
Telemedizin heute
Nach dem Ende der Pandemie ging die Nachfrage nach Videosprechstunden wieder deutlich zurück, was nicht weiter erstaunlich ist – im Jahr 2023 wurden 576.000 Videobehandlungen registriert.
Die Politik setzt mittlerweile verstärkt auf die Telemedizin. Das Bundesministerium für Gesundheit betont besonders ihre Bedeutung für die Versorgung im ländlichen Raum. Im Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens, das im März 2024 in Kraft getreten ist, werden Mengenbegrenzungen für telemedizinische Behandlungen aufgehoben. Auch Apotheken dürfen nun im Rahmen telemedizinischer Maßnahmen beraten und Routineaufgaben durchführen („assistierte Telemedizin“).
Einen kleinen Boom erleben derzeit sogenannte Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA). Das sind Smartphone-Apps und browserbasierte Anwendungen, die Diagnose, Behandlung, Linderung und Vorbeugung unterstützen sollen. Grundlage ist das Digitale-Versorgung-Gesetz von 2019. Demnach werden die Kosten für vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zertifizierte DiGA von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen („App auf Rezept“). Nach Angaben des Spitzenverbands Digitale Gesundheitsversorgung wurde zwischen Herbst 2020 und Herbst 2023 rund 370.000-mal eine DiGA durch Patient*innen freigeschaltet; über die Hälfte dieser neuen Nutzer*innen registrierten sich im letzten Jahr.
Die ersten Anwendungen wurden 2020 registriert; im Herbst 2023 waren mittlerweile 49 DiGA zugelassen. Das thematische Spektrum ist weit. Es reicht von Unterstützung bei psychischen Erkrankungen („Invirto – Die Therapie gegen Angst“) über Programme zur Verhaltensänderung („NichtraucherHelden-App“) und Vorbeugung („Rückentraining für Zuhause“) bis zur therapeutischen Unterstützung bei chronischen Krankheiten („Kaia COPD: Meine aktive COPD Therapie“). Mit dem Deutschen Gründerpreis 2024 ausgezeichnet wurde die Hautscreening-App von Dermanostic. Die Anwendung führt Patient*innen durch einen Prozess, bei dem drei Fotos von Hautveränderungen gemacht und einige Fragen beantwortet werden. Die Daten werden an die digitale Hautarztpraxis übertragen, wo meistens eine Diagnose ohne weitere Untersuchung gestellt werden kann.
Betriebsärztin oder Betriebsarzt vor der Kamera: Die Bedeutung telemedizinischer Verfahren für die Arbeitsmedizin
In der Arbeitsmedizin können telemedizinische Verfahren nicht nur allgemein die Effizienz steigern, sondern auch dabei helfen, die Auswirkungen des Fachkräftemangels aufzufangen. In einer Zeit, wo Arbeitsmediziner*innen immer mehr Unternehmen an immer mehr Standorten betreuen müssen, werden die räumlichen Entfernungen manchmal zu groß und die Zeitfenster zu klein, um noch eine effektive Versorgung zu ermöglichen. Telemedizinische Verfahren sparen Zeit und sind flexibler zu planen.
Allerdings sieht etwa die gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) telemedizinische Betreuung nur als Ergänzung zur Betreuung vor Ort. Grundsätzlich soll der direkte Kontakt immer Vorrang genießen.
Das ist ein sympathisch klingendes Prinzip, das aber vielleicht die Möglichkeiten der Telemedizin insbesondere in der Arbeitsmedizin immer noch unterschätzt. Grundsätzlich sind Regelungen, die alle Fälle, Unternehmen und Branchen über einen Kamm scheren, wenig sinnvoll. Betriebe sind sehr unterschiedlich: Die Gesundheitsrisiken in einer Werbeagentur und die Gefährdungen in einem Stahlwerk verlangen nach sehr verschiedenen Vorsorge- und Betreuungsansätzen. Welche das sind, wird niemand besser beurteilen können als die Betriebsärztinnen und Betriebsärzte vor Ort. Die Entscheidung ob z. B. der Bildschirmarbeiter mit Rückenproblemen gleich persönlich zur Untersuchung vorstellig werden sollte, oder ob zunächst die Online-Beratung genügt, darf der ärztlichen Kompetenz überlassen bleiben.
Ob solche und auch kompliziertere Entscheidungen gut getroffen werden, hängt aber auch davon ab, wie viel Zeit Ärztinnen und Ärzte auf den einzelnen Fall verwenden können. Eben deshalb ist die Ausweitung telemedizinischer Verfahren so vielversprechend: Sie spart bei Routine-Tätigkeiten Zeit ein, die für die schwierigeren Aufgaben frei wird.
Telemedizinische Verfahren sind die neuen Instrumente im Arztkoffer. Ihr volles Potenzial für die Arbeitsmedizin kann die Telemedizin dann entfalten, wenn Arbeits- und Betriebsmediziner*innen die Werkzeuge, die sie bereitstellt, frei nutzen und kombinieren können.
Quellen:
- Die Techniker: Zahl der Videosprechstunden seit 2021 um 40 Prozent gesunken, 2024
- Kassenärztliche Bundesvereinigung: Videosprechstunde: telemedizinisch gestützte Betreuung von Patienten, 2024
- Bundesministerium für Gesundheit, Telemedizin, 2024
- Bundesministerium für Gesundheit, Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens (Digital-Gesetz – DigiG), 2023
- Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung, DiGA-Report des SVDGV: Digitale Gesundheitsanwendungen helfen Tausenden Patient:innen, PDF, 2023
- Deutscher Gründerpreis, Dermanostic GmbH, 2024
- Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Arbeitshinweise der Unfallversicherungsträger zur Bearbeitung von Arztrechnungen, PDF, 2023